Ignoriert den Browser nicht
In wiederkehrenden Zyklen erschweren Browser-Relikte den Webentwicklern die Arbeit - warum eigentlich?
Es waren einmal... stürmische Zeiten
Im Jahr 2001 startete die Web Standards Projects (WaSP), eine Art Lobbyorganisation von Webdesignern und Webentwicklern, die »Browser Upgrade Campaign«. Die Kampagne zielte darauf, die Nutzer veralteter Browser zum Umstieg auf fähigere Browser mit akzeptabler Standardunterstützung zu überreden. Denn die Altlasten – namentlich Netscape 4, aber auch ältere Internet-Explorer-Versionen – spielten eine Ton angebende Rolle und verhinderten die schmerzfreie Webentwicklung.
if (!document.getElementById) upgradeYourBrowser()
Das WaSP rief die Webautoren dazu auf, Websites konsequent gemäß den Standards zu entwickeln. Alle Browser, die diese nicht ausreichend unterstützten, sollten einen entsprechenden zusätzlichen Hinweis erhalten, der den Websurfer zum Aktualisieren des Browsers aufforderte. Gleichzeitig sollte das Stylesheet vor Browsern versteckt werden, die es ohnehin fehlerhaft anzeigen würden. Anfang 2001 bedeutete dies mitunter, zwanzig bis dreißig Prozent der Besucher eine Gestaltung mit CSS zu verwehren.
Um die Webautoren zur Mitarbeit zu überreden, wurde das Ziel der grenzenlosen Abwärtskompatibilität argumentativ angegriffen und gegen Zukunftsfähigkeit ausgespielt. Rücksichtnahme auf fehlerhafte Browser, so die Argumentation, hemme die Verbreitung von Webstandards, die langfristig auch dem Anwender nutzen werde.
Die anhaltende Krise, von der nichts mehr zu spüren ist
Denjenigen, die schon lange im Web aktiv sind, sind noch die erbitterten Diskussionen aus diesen Jahren in Erinnerung: Was bedeutet Abwärtskompatibilität und wie weit muss sie reichen? Muss meine Site in alten Browser gleich aussehen? Inwiefern soll man alte Browser noch unterstützen? Wenn ich alten Browsern das Stylesheet vorenthalte, ist die Site noch zugänglich? usw.
Heute finden sich solche Kontroversen erstaunlicherweise nicht mehr – es ist scheinbare Ruhe eingekehrt. Netscape 4 hat sich längst verabschiedet. Standardkonforme Browser sind auf dem Vormarsch, selbst der Internet Explorer mausert sich. Neue Techniken entstehen rapide und bestehende werden standardisiert und vereinheitlicht. Das Web hat sich durch Web 2.0 und Ajax ungeahnt erweitert. Das WaSP arbeitet heute beratend mit den Browserherstellern zusammen, anstatt Boykottaufrufe zu verbreiten. Aber auch die Sicht auf Abwärtskompatibilität hat sich gewandelt: Neue Browser-Versionen erscheinen in relativ kurzer Abfolge mit vergleichsweise kurzem Support-Lifecycle.
History Repeating?
Trotz alledem ist die Grundsituation dieselbe geblieben und wir werden sie auch in Zukunft immer wieder erleben, auf die eine oder andere Weise. Im Moment ist der Internet Explorer 6 die Fortschrittsbremse, der die Webautoren zur Weißglut bringt. Trotzdem leistet es sich keine große Site, älteren Browsern nur eingeschränkte Features zu bieten oder gar offensiv für neuere Browser zu werben. Eine »Browser Upgrade Campaign« von prominenter Stelle wäre undenkbar, wie moderat und dezent sie auch wäre.
Was aus der Geschichte zu lernen wäre
Dabei wäre es aus meiner Sicht nur eines, was eine solche Kampagne mitzuteilen hätte: Bei allen Gründen, warum jemand eine bestimmte Browserversion nutzt, sollte jedem Web-Teilnehmer bewusst sein, dass der Browser Teil des Webs ist. Das Web ist nicht dort draußen und ich schaue unbeteiligt darauf, sondern es passiert auf meinem Rechner, in meinem Browser.
Wenn es heißt: Das Web ist die Plattform, dann ist in Anbetracht der heutigen Webanwendungen vor allem der Browser die Plattform. Mein Web-Zugangsprogramm diktiert Anbietern, was möglich und nötig ist, was ich zu sehen bekomme. Die Weiterentwicklung des Webs passiert also maßgeblich auf meinem Rechner: Indem ich Zugangsprogramme verwende, die Webentwicklern die Möglichkeit geben, zeitgemäße Techniken effizient anzuwenden.
Rechnung ohne den Wirt
Das ist eine Erkenntnis, die am Anfang stehen könnte und die mehr leistet als gerade aktuelle Kampagnen gegen bestimmte Webbrowser-Versionen. Gleichzeitig ist diese Erkenntnis unmöglich – nicht nur für Websurfer, die von den Schwierigkeiten der Webentwicklung nichts wissen können.
Auch die Anbieter sind bestrebt, mit ihren Websites Monolithen zu schaffen: Ein einheitliches Layout, eine gleiche Funktionalität für alle verbreiteten Browser. Das scheint eine gute Idee zu sein und verspricht weniger Aufwand, zieht aber einen Rattenschwanz an Hacks und Workarounds nach sich – im Jahr 2001 wie im Jahr 2008. Denn die Zugangsprogramme bringen äußerst unterschiedliche Fähigkeiten und Eigenschaften mit sich. Sich über den Mehraufwand der Anpassung für ältere und fehlerhafte Browser aufzuregen, ist müßig, weil er, wenn man diese festen Ziele absteckt, notwendig, das heißt unvermeidlich ist.
Eine(r) für alle?
Auch wenn es Verfechter von Webstandards tausendmal in Zweifel gezogen haben: Websites sind faktisch Gemälde. Selbst wenn mittlerweile zumindest denkbar ist, dass Websites auch unter ganz anderen Bedingungen gelesen werden (z.B. auf einem Smartphone), so bleibt es undenkbar, dass die unterschiedlichen Desktop-Browser unterschiedlich, nämlich nach ihren Fähigkeiten behandelt werden – und irgendein Auftraggeber oder Webnutzer dafür Verständnis aufbringen würde. Beide kennen Websites, als wären sie Zeitungen: Die New York Times sieht in Chicago genauso aus wie in Caracas, Kairo, Kapstadt oder Kuala Lumpur.
Natürlich wurde diese Frage oft diskutiert. Es ist nicht weniger plausibel, den Nutzer dort abzuholen, wo er steht, mit den jeweiligen technischen Voraussetzungen, die er mitbringt. Die Funktionsweise des Webs interessiert ihn nicht, er will weder seinen Browser wechseln oder Einschränkungen in Kauf nehmen, sondern das volle und ganze Web sehen, wie es ein beliebiger anderer auch sieht.
Das sei alles stehen gelassen. Ich möchte vielmehr grundsätzlich auf Selbstverständlichkeiten und Erwartungen hinweisen, in denen wir uns verfangen haben. Erst daher stammt der Zwang, eine äußerst heterogene Browserlandschaft mit einer identischen Website beliefern zu müssen. Daran würde eine akute Kampagne, die zum Browserupdate auffordert, auch wenig ändern – auch wenn man sich nur wünschen kann, dass der Internet Explorer 6 so schnell wie möglich abtritt.