Die Zukunft des Open-Webs: SELFHTML im Gespräch mit Mozilla
SELFHTML im Gespräch mit Mozilla zum Thema: Die Zukunft des Open-Webs
Was haben ein Wecker, Rekorde und Münchner Spezialitäten mit SELFHTML und Mozilla zu tun? Zunächst mal gar nichts, aber am Mittwoch den 20.06.07 sogar eine ganze Menge. Weil ich an diesem Tag den ersteren überhört habe, stellte ich einige vom zweiten auf und am Ende kosteten mich ein Anruf und eine E-Mail ein paar der dritten – aber der Reihe nach.
Mozilla ist auf Pressetour – in Japan und in Europa. Wir (d.h. die SELFHTML-Redaktion) wurden gefragt, ob wir an einem Gespräch mit Mozilla zum Thema »Die Zukunft des Open-Webs« Interesse hätten. Wir haben zugesagt und einen Termin für Mittwochmittag in der Münchner Presseagentur arcendo communications vereinbart.
Das Gespräch
Unsere Gesprächspartner waren Mike Shaver (en), einer der Gründer der Mozilla-Stiftung (en) und »Director of Ecosystem Development« bei Mozilla, Tristan Nitot(fr), Präsident von Mozilla-Europe und Gründer und Leiter der französischsprachigen OpenWebGroup (fr). Die SELFHTML-Redaktion habe ich in Begleitung von Stefan Münz [1] vertreten. Das Gespräch verlief in lockerer Atmosphäre, die Themen wechselten, wodurch sich auch immer wieder neue Fragen ergaben. Dadurch ist es auch etwas schwierig, hier nur einige konkrete Fragen und direkte Antworten wiederzugeben.
Was ist das »Open-Web«?
Um die Zukunft von Internet-Anwendungen werden derzeit hitzige Debatten geführt. In den vergangenen Monaten wurden neue Rahmensysteme zur Entwicklung von Rich Internet Applications veröffentlicht. So z.B. Silverlight von Microsoft, AIR (Adobe Integrated Runtime) (en) von Adobe oder Google Gears (en). Ziel dieser neuen Frameworks ist es, Rich Internet Applications wie Web-Formulare, Animationen, Vektorgrafiken und Videowiedergabe oder Offline-Anwendungen einfacher zu gestalten und für eine reichhaltige User-Erfahrung zu sorgen. Auch wenn die eingesetzten Technologien teilweise als Open Source zur Verfügung stehen, bleiben die Quellcodes dieser Anwendungen geschlossen und proprietär und somit anbieterspezifisch.
Mozilla vertritt die Überzeugung, das Internet sei eine offene Plattform und müsse dies auch für alle bleiben, dabei aber stets die Sicherheit aller Nutzer garantieren. Gleichzeitig solle es das Leben seiner Nutzer bereichern und ihnen die Möglichkeit bieten, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und einzubringen. Kompatible Protokolle und Formate sowie der Einsatz offener Software sollten sicherstellen, dass das Internet als öffentliche Informationsquelle weiterentwickelt wird. So das "Mozilla Manifest" (en).
Die erste Frage?
Auch zu unserer Überraschung stellten nicht wir die erste Frage, sondern Mike, der sich dafür interessierte, wie wir eine Dokumentation wie SELFHTML handhaben. Ob wir eine geschlossene Gruppe hätten, die sich um die Inhalte kümmert, oder ob wir ein ganz öffentliches kollaboratives System wie ein Wiki einsetzten. Natürlich mussten wir beide bei dieser Frage schmunzeln. Stefan erklärte dann kurz die – hier wohlbekannte – Wiki-Problematik und ich schilderte unseren neuen Ansatz. Mike erläuterte dann den Hintergrund seines Interesses, nämlich dass die von uns geschilderten Probleme auch bei dem Mozilla-Dokumentation-Projekt (en), wo es auch um die Qualität der Inhalte geht, ebenfalls bekannt und aktuell seien.
Marktanteile?
Auf die nächste Frage, welchen Marktanteil Mozilla habe, nannte uns Tristan einige Eckdaten, die ich hier auch ohne weiteren Kommentar wiedergebe: Die globale Verbreitung von Mozilla liegt etwa bei 18 - 19%, in Europa bei etwa 20%, in Deutschland um die 30%, in Frankreich, Italien und Spanien bei etwa 18%. In Polen hat Mozilla mit 33 - 35% die größte Verbreitungsrate, allerdings ist diese Zahl angesichts der noch immer recht kleinen Anzahl an Internetusern nicht wirklich repräsentativ. Mit 7% sei Mozilla in Japan am wenigsten verbreitet, was jedoch nicht an der bewussten Entscheidung der User, Mozilla/Firefox nicht zu nutzen liegt, sondern daran, dass Firefox eher unbekannt ist.
Worin liegt die Gefährdung des Open-Webs?
Wie und warum gefährden Produkte wie Silverlight oder AIR das Open-Web, wenn diese Anwendungen doch plattformübergreifend laufen? Bei der Frage des Open-Webs geht es vor allem um die Zugänglichkeit von Informationen für jedermann und um den Erhalt dieser Informationen. Die Probleme bei solchen Rich Internet Applications bestehen vor allem darin, dass sie ein Tool für ein bestimmtes Problem sind. Durch die geschlossene Entwicklung des Codes liegt es in den Händen des jeweiligen Herstellers, was er implementiert und wem er die durch sein Produkt erstellte Anwendung zugänglich macht. Als Beispiel brachte Mike Flash, dass Linux-User fast zwei Jahre warten mussten, bis für ihr System ein entsprechendes Plugins von Adobe zur Verfügung gestellt wurde.
Auch die Frage, was mit den Informationen passiere, wenn ein Hersteller beschlösse, die Entwicklung seiner Anwendung einzustellen, sei dabei von Bedeutung (siehe z.B. die Geschichte von Adobes SVG-Plugin). Man hat in so einem Fall also nur wenige Möglichkeiten, denn entweder kann man auf ein Nachfolgeprodukt, sofern dieses noch für das alte Unterstützung bietet, oder auf ein ähnliches umsteigen, oder die Informationen gehen verloren. Die weitere Bereitstellung des bisherigen Inhalts verursacht in jedem Fall kosten. Kosten die nicht alle aufbringen können oder wollen*.
* Denke man hier an die Developer-Seiten (DevEdge) von Netscape, die nach der Übernahme durch AOL am 12.10.2004 einfach vom Netz genommen wurden. DevEdge galt unter Fachleuten als eine der besten Quellen zu Javascript und HTML. Es waren seitens der Mozilla-Stiftung Monate der Verhandlungen(en) nötig, um an Inhalte zu gelangen und da die Stiftung nur die reinen Daten erhielt und diese für eine Veröffentlichung im Internet aufbereiten musste, dauert es noch bis heute an, sie wieder zur Verfügung zu stellen (weshalb DevMo(en) noch immer als »beta« geführt wird).
Da stellen sich natürlich bei jedem Fragen, wie z.B.: Welchen Einfluss wohl ein Unternehmen hätte, das nur 10 - 15% der aktuell auf eine Milliarde geschätzte Anzahl der Internetnutzer auf sein Produkt binden könne?
Wer kann sie (nicht) nützen?
Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die Barrierfreiheit solcher Anwendungen. Der Webseitenersteller, der solche RIAs verwendet, hat auf Grund des geschlossenen Codes nicht die Möglichkeit, selbst Änderungen vorzunehmen. Er kann nur auf den vom Hersteller bereitgestellten Funktionsumfang zurückgreifen und der User kann sich allenfalls mit Hilfe von Tools wie Greasemonkey behelfen, sofern er in der Lage ist, selbst zu programmieren. Auch die Auffindbarkeit von Informationen ist eingeschränkt. Suchmaschinen bleiben außen vor und Links auf bestimmte Teile oder Seiten in diesen Anwendungen sind nur schwer möglich.
Engpass HTTP?
Das Web hat sich in den letzen Jahren enorm verändert. Die aktuellen Trends gehen in Richtung der RIAs, ob es nun quellgeschlossene Anwendungen oder umfangreiche JavaScript-Bibliotheken (Ajax) sind, die dabei zum Einsatz kommen. Stefan hat die Frage nach dem HTTP-Protokoll, also nach dem Engpass bei diesen Technologien gestellt. Hier waren sowohl Mike und Tristan als auch wir der Meinung, dass in diesem Punkt noch eine Menge Entwicklungsarbeit geleistet werden müsse. Das ständige Pingpong-Spiel zwischen Server und Client erfüllt immer weniger die Anforderungen, die solche interaktive und multimediale Webseiten und Anwendungen aufstellen. Es wird in Zukunft nötig sein, das Protokoll zu erweitern.
Multimedia?
Eines der Hauptargumente der Hersteller von RIAs bezieht sich auf die einfache und nahtlose Einbindung von Animation, Ton oder Musik und Video in Webseiten. Wie sollten die User Angeboten wie YouTube, MyVideo oder der RIAs widerstehen und für ein offenes Web publizieren, wenn gerade auf diesem Gebiet die Unterstützung von offenen Standards nur mangelhaft ist? SMIL (en) ist nicht nur kompliziert, es wird auch kaum unterstützt. Die Unterstützung von SVG(en) beschränkt sich mit wenigen Ausnahmen auf statische Darstellung. Die Nutzung von Videos in Webseiten setzt auf der Userseite verschieden Plugins, von Flash über QuickTime bis RealPlayer, und auf der Seite der Webseitenersteller das Wissen über class-ids, Parameter etc. voraus.
Es gibt bereits Ansätze (unter den Namen Web Applications 1.0 bzw. HTML 5 (en)) und Bemühungen in die richtige Richtung, wie z.B. das canvas
-Element (en) [2], das Mozilla, Opera und Safari unterstützen. Mozilla bemüht sich gemeinsam mit den anderen Browserherstellern auch um die Einführung des video
-Elements (en) [3] beim W3C. Und wie werden die Browser der Zukunft mit diesen Neuerungen umgehen? Tristan meinte hierzu, dass die Browser der Zukunft wohl nicht mehr nur eine Rendering-Engine haben werden, sondern mehrere (was teilweise durch den DOCTYPE-Switch ja schon heute gegeben ist), eine für HTML 4, eine für XHTML, eine für HTML5, eine für SVG usw.
Die Rolle des W3C?
Hier kritisierten Mike und Tristan vor allem die frühere Haltung des W3C, Standards wie z.B. SMIL (der viel zu kompliziert ist) oder XHTML 1.1 (den keiner braucht) durchgedrückt zu haben, ohne auf wirkliche Implementierungen und Nutzbarkeit zu achten und dass das W3C damit teilweise seine eigentlich Rolle verfehlte. Auch das Bezahlmodell für eine Mitgliedschaft war eher ein Hinderungsgrund und funktionierte letztlich auch nicht im Sinne des Erfinders, denn die Experten wanderten ab und/oder führten die Entwicklungen an anderen Orten und Plätzen im Netz weiter. Dass durch eine von den Nutzern abgewandte Haltung auf lange Sicht die Akzeptanz durch und Interesse derselben an der Arbeit des W3C und somit auch den Einfluss, den das Konsortium ausübt, sinkt, hat man aber auch beim W3C festgestellt.
Mittlerweile ist einiges in Bewegung geraten und das W3C sucht verstärkt den Kontakt zu den Entwicklern und Usern. Ein Zeichen dieser Öffnung ist, dass die WHATWG (en) und die W3C HTML-Arbeitsgruppe (en) an den derselben Spezifikation mit demselben Editor arbeiten. Auch können jetzt einzelne sich der Arbeitsgruppe als »eingeladene Experten« (en) anschließen und sich so an den Entwicklungen beteiligen.
Die User?
Bei den Fragen nach dem Verhalten und der Bereitschaft der heutigen User zum Open-Web waren die Meinungen am unterschiedlichsten. Das Open-Web soll seinen Nutzern nicht nur den Zugang zur Informationen offen halten, sondern sie auch dazu bewegen, selbst mitzugestalten. Mikes These, die wir auch teilten, war, dass man noch heute das Erstellen von Webseiten leicht erlernen kann. Wie vor fünf Jahren kann man noch heute Webseiten mit HTML und ein wenig CSS und JavaScript erstellen. Die Ergebnisse werden sich wohl nicht viel von den damaligen Ergebnissen unterscheiden. Natürlich kann ein User mehr tun – so er es will – als nur ein wenig CSS und JavaScript zu verwenden, denn auch dazu hat er die Möglichkeit mit frei zugänglichen Informationen und freier Software. Möchte man z.B. einige schicke Animationen für seine Webseite, kann man dazu auf Scriptsammlungen wie Prototype (en), jQuery (en) oder ext (en) zurückgreifen.
Dennoch stellte sich aus unserer Sicht (und Erfahrungen, nicht zuletzt durch die Nachfragen im Forum) die Frage, warum sollte sich ein User in viele verschiedene Technologien einarbeiten, wenn er dasselbe oder bessere Ergebnisse mit fertigen Anwendungen erreichen kann? Warum sollte sich jemand die Mühe machen, eine Blog-Software für seine Seite zu schreiben, wenn er z.B. bei blogger.com in weniger als zwei Minuten ein eigenes Blog haben könne? Nicht wenige der führenden Köpfe des Webs, die lange eine eigene Homepage unterhielten, bloggen heute an Orten wie blogger.com oder setzen eine vorgefertigte Lösung wie Wordpress etc. ein.
Obwohl wir über diese Fragen auch am längsten sprachen blieb dann keine Zeit mehr, sie erschöpfend zu beantworten. Zwei Stunden sind wie im Fluge vergangen und auf Mike und Tristan wartete noch ein anderer Termin.
Letzte Frage?
Ich konnte mir als letzte Frage nicht verkneifen, nach der Meinung der beiden zu Safari auf Windows zu fragen. Beide begrüßten diesen Schritt von Apple. Vor der Konkurrenz hat man bei Mozilla keine Angst, denn ganz im Sinne des Open-Webs sei es ein Gewinn für den User, wenn er mehr Möglichkeiten habe – auch was die Wahl seines Browsers betrifft. Dennoch betonte Mike, dass auf Safari auf Windows noch einige Herausforderungen warteten, denn die Anforderungen an Windows seien auch höher (z.B. in Fragen der Sicherheit).
Kleine Linksammlung
- Vergleich der Renderingengines der Browser
- WHATWG: HTML5-Entwurf
- WHATWG-Mailingliste: Vorschlag des
video
-Elements von Anne van Kesteren (Opera ASA) - HTML5 (kurze Zusammenfassung der XTech 2007) von Anne van Kesteren
- das
video
-Element in Firefox 3 - das
video
-Element in Opera (auch: labs.opera.com) - Experimentelle Opera-Version mit Unterstützung für
video
- Planet HTML5
- Canvas für den Internet Explorer
Am Rande
Der aufmerksame Leser, der sich auch noch daran erinnert, was ich am Anfang gefragt habe, wird sich jetzt wundern: »was ist denn jetzt mit dem Wecker und mit den anderen Sachen?« Nun … Wenn ich schon mal nach München fahre, bietet sich die Gelegenheit, Freunde wiederzusehen. So habe ich Stefan gefragt, ob er seinerseits Interesse an diesem Gespräch und Zeit dafür hätte, was er auch bejahte. Ich stellte also den Wecker auf 5 Uhr. Um 6:30, als mein Zug bereits die Stadt verlassen hatte, wachte ich im plötzlichen Erkennen auf, dass ich verschlafen habe. Der nächste Zug, damit ich überhaupt noch rechtzeitig in München ankomme, ging bereits um 7 Uhr. In dieser halben Stunde praktizierte ich nicht nur absolutes Multitasking, sondern stellte vermutlich auch noch einen Rekord im Sprint auf 1000m auf. Ich habe den Zug erreicht. Um Stefan über meine Verspätung zu benachrichtigen, musste ich jedoch einen Freund anrufen, damit er ihm eine E-Mail mit meiner neuen Ankunftszeit schickt. Und weil das so gut geklappt hat, versprach ich ihm ein »ich schulde dir was«, worauf prompt die Antwort kam »Brezn und Weißwurst«. Nun ja, als ich dann spät am Abend wieder zu Hause war, hatte ich Hunger. Aber zwei Stück von den großen Brezn waren noch am nächsten Tag da! ;-)