Ten Years After, Forum!
Das SELFHTML-Forum feiert seinen zehnjährigen Geburtstag
Am 26.07.1998, heute vor zehn Jahren, wurde das SELFHTML-Forum eröffnet. Im Archiv kann der erste Thread nachgelesen werden. Zum Forums-Jubiläum veröffentlichen wir einen Rückblick von Stefan Münz auf die Entstehung und Fortentwicklung des Forums. Vielen Dank an ihn.
98 war ein bescheidener Sommer. Mit den Arbeiten an SELFHTML 7 hatte ich mich körperlich übernommen. Zu viel innere Anspannung, zu viel begleitender Alkohol, zu wenig Schlaf, zu wenig menschliche Kontakte, zu wenig Abwechselung. Eine Woche, nachdem die 7er draußen war, und nachdem sich die Anzahl von Mails auf ein erträgliches Maß von etwa 50 am Tag reduziert hatte, fühlte sich eine Körperhälfte plötzlich ganz taub und kribbelnd an. Gar nicht gut - also besser gleich zur Notaufnahme ins Krankenhaus. Immerhin: den von mir befürchteten Schlaganfall konnten die Ärzte sofort ausschließen. In der Folgezeit wurde allerdings viel nach Ursachen gesucht. Ich gab das Rauchen auf, fuhr am Wochenende morgens um halb acht mit dem Rad ins Schwimmbad, wo ich erst mal einen knappen Kilometer Bahnen abspulte. Weitere Facharzt-Besuche folgten - Radiologe, Neurologe - man testete mittlerweile auf MS, aber das war es wohl auch nicht. End-Diagnose: Nervenfunktionsstörungen. Ruhig bleiben, gesund leben und warten bis es besser wird, so die Empfehlungen.
Na gut. So fuhr ich denn also viel Fahrrad und sah zu, dass ich von SELFHTML nicht aufgefressen wurde. Kaufte mir für ein sattes Sümmchen meine erste Digtalkamera und begann zu knipsen. Natürlich war ich nicht wirklich in der Lage, die Finger von meinem erfolgreichen Baby zu lassen. Was mich beschäftigte, war vor allem das Webangebot von SELFHTML aktuell. Da gab es richtig viele Zugriffe. Ich hatte das Gefühl: was ich dort platziere, verwandelt sich auf der Stelle in Gold. Tolles Geühl. Aber ich wollte natürlich auch nicht irgendeinen Mist dort platzieren. Mein größter Wunsch war ein Forum, so eine richtige Diskussionsarena, wie ich sie aus tollen CompuServe-Foren wie dem GERINT kannte.
Dank SELFHTML wusste ich ja, wie die CGI-Schnittstelle funktioniert, wie man dies und das mit Perl programmiert, und ich hatte eine CGI-Schnittstelle und Perl zur Verfügung. Die Ground-up-Programmierung eines Forums traute ich mir allerdings nicht zu. Aber es gab da ein Forum von einem gewissen Matt Wright (das gibt es übrigens auch heute noch) zum freien Download - ein einziges, knapp 40 Kilobyte großes Perlscript. Das installierte ich mir, passte die HTML-Codes ans SELFHTML-Layout an (so was musste man damals direkt im Programm-Code tun), und als mir die Sache so richtig gefiel, gab ich mir einen Schubs und stellte das Ding in meinen Goldeselbereich. Ich war mir ja so ganz und gar nicht sicher, wie das wohl mit diesem "user generated content" (den Ausdruck gabs 98 natürlich noch nicht, bzw. kannte ihn hierzulande niemand) wohl klappen würde. Also machte ich, um meine Nerven zu schonen, erst mal eine kleine Radtour. Doch schon nach wenigen Stunden gab es die ersten Postings.
Wenige Wochen später war klar, dass ich einen zweiten Hit gelandet hatte. Das Forum blühte prächtig. Ein neuer Aspekt von SELFHTML war geboren: der direkte, oft sehr direkte Austausch zwischen Usern, und all diese Ergüsse wurden automatisch Teil des World Wide Web. Ein selbstwachsender Wissensberg im SELFHTML-Layout -- irre Sache. Was mir noch fehlte, war ein web-basierter Chat auf SELFHTML aktuell. Der kam etwa drei Monate später dazu (Ende Oktober 98). Forum und Chat entwickelten sich im Laufe der nächsten Monate alsbald in die Richtung, einen Kern von Leuten sehr stark zu binden. Betroffene von damals wissen, dass diese Formulierung sehr vorsichtig gewählt ist. Leute schmissen ihre alten Jobs hin und sattelten auf Webentwickler-Berufe um, nachdem sie sich wochen- und monatelang intensiv im Forum und im Chat herumgetrieben und ausgetauscht hatten.
Nur wenige Monate nach Eröffnung des Forums gab es bereits erste Real-Life-Treffen zwischen Forums-Usern, und etwas über ein Jahr nach der Eröffnung das erste, legendäre SELF-Treffen. Eine Community war geboren, in der unzählige Freundschaften und Kontakte entstanden. Allerdings gab es nicht nur Sonnenseiten. Mit wachsender Bekanntheit wurde das bewusst offen und ohne Registrierungspflicht benutzbare Forum von allerlei schrägen Gestalten heimgesucht. Eine 24-Stunden-Moderation wurde notwendig. Und wenn gar nichts mehr half, wurde das Forum einfach eine Weile lang zugesperrt (ja, damals gab es noch richtige Entziehungskuren für Forumssüchtige, aber heute sind Auszeiten ja so was von out, dass an so was gar nicht mehr zu denken wäre).
Innerhalb des vielgescholtenen Inner Circle (dessen Nichtexistenz genauso vehement zu beweisen versucht wurde wie seine Existenz) wuchs angesichts des immer hektischer werdenden Alltagsbetriebs im Forum der Wunsch nach einem Rückzugsraum. So entstand das Lounge-Forum. Mindestens so beliebt wie Diskussionen um den Inner Circle waren zur Jahrtausendwende aber auch Diskussionen über die Forumssoftware. Das Matt-Wright-Script glich in vielerlei Hinsicht einer vietnamesischen Flüchtlingsfähre. Eine bessere Software-Basis war deshalb dringend geboten. Es sollte aber ein Forum sein, keines von diesen allerortens aus dem Boden sprießenden Boards. Auch wenn es über Foren und Boards ähnlich viele Diskussionen gab wie über den Inner Circle und die Forums-Software als solche.
Mittlerweile gab es einen internen Developer-Bereich. Der war natürlich auch Gegenstand von Mythen und Sagen. In Wirklichkeit gab es dort oft heftige, hochkarätige und energieraubende Auseinandersetzungen über richtige Wege und technische Mittel. Andere programmierten einfach und redeten nicht so viel. Zum Beispiel André Malo, der das Forum schließlich auf eine neue Software-Basis brachte, und mit dem ich längst mal das seinerzeit von ihm prophezeihte Versöhnungsbierchen trinken gehen sollte.
Das Forum lief nun stabiler, wurde aber auch immer stärker frequentiert. Einige Veteranen der ersten Zeit wandten sich allmählich ab, weil das Forum in langweilige Fachdiskussionsgefilde abzugleiten drohte, gewürzt nur mit einer speziell deutschen Abkanzelungskunst, die aus den Newsgroups kommt und die man sich als Vulgärvariante akademischer Spitzzüngigkeit vorstellen muss. Top-Poster Cheatah beherrscht sie perfekt, aber andere kaum weniger.
Die Forums-Software wurde nochmals umgeschrieben. Christian Kruse wollte sich und der Welt zeigen, wie performant eine solch vielgenutzte Multi-User-Anwendung ohne Server-Farmen und Load-Balancing sein kann, wenn man eine teilweise speicherresidente, in klassischem C geschriebene, intern als Client-Server-Struktur modellierte Power-Anwendung daraus macht. Es ist ihm gelungen: die Forumsteilnehmer konnten anfangs kaum fassen, wie rasend schnell das Forum auf einmal war.
Jahre gingen und kamen ins Land. Netscape 4 verschied in Frieden, Mozilla wurde geboren, der MS Internet Explorer wurde zum Buhmann, und die Masse der Suchenden und Fragenden wurde mehr oder weniger behutsam dazu umerzogen, Gestaltungswünsche mit Hilfe von CSS und nicht mehr mit HTML umzusetzen. Das Web 2.0 zog herauf, mit allerlei genialen Sites und "user generated content" als Motto. Das SELFHTML-Forum ließ sich jedoch davon nicht beirren und blieb sich treu. Denn es ist längst eine Institution, genauso wie SELFHTML selbst. Und ich lege Wert darauf, dass Doku und Forum zwar zusammengehörige, aber unterschiedliche und eigenständige Institutionen sind. Es gibt genügend User, die gerne mit SELFHTML arbeiten, aber das Forum wegen seiner Unübersichtlichkeit, Hektik und häufiger Entgleisungen im Umgangston abscheulich finden. Ebenso gibt es aber auch User, die ihre halbe Freizeit (und die halbe Arbeitszeit sowieso) im Forum und im Chat verbringen, die Doku aber nur vom Horensagen kennen. Ich habe Menschen beider Gattungen kennengelernt und kann bestätigen, dass es sich bei beiden Gattungen um normale Menschen handelt. Möge diese unvereinbare Vielfalt eine weitere Dekade lang gedeihen!
— Stefan Münz