Das Internet weitererzählen - SELFHTML wird 30!
Gastbeitrag von Stefan Münz:
Mittlerweile hat nicht nur SELFHTML eine lange Tradition - nein, auch meine Beiträge zu den Jubiläen werden immer mehr. Vor zwanzig Jahren, zum zehnten Geburtstag (Kindergeburtstag, ha!), beschrieb ich, wie ich in den 90ern über CompuServe ins Internet fand, und wie ich die erste wilde Zeit im Web als Erklärbär erlebte (Wie alles begann).
Zehn Jahre später - zu diesem Zeitpunkt war ich selber schon längst nicht mehr aktiv beim Projekt - hatte sich selbiges dank engagierter Leute gerade aus einer großen Existenzkrise befreit, wodurch sich die Überschrift des Jubiläumsartikels von 2015 erklärte (Totgesagte leben länger - SELFHTML ist 20!). Auch das viertel Jahrhundert musste natürlich gefeiert werden, wozu ich in einem Artikel Vergleiche zu einer mittlerweile in Ungnade gefallenen Klima-Ikone zog und die großen Plattformen als "Sargnägel des Webs" bezeichnete (Zusammenhänge schaffen ‒ SELFHTML wird 25).
Damit ist die Kontinuität zur Gegenwart eigentlich schon hergestellt. Denn die Problematik der Plattformen hat sich in den letzten fünf Jahren - das kann man nicht anders sagen - exponentiell verschärft. Waren es seinerzeit noch eher netztopologische und monopolkritische Überlegungen, die mich gegen die großen "walled gardens" argumentieren ließen, so sind die Folgen mittlerweile längst politisch relevant. Allem voran ist da natürlich die Übernahme von Twitter durch Elon Musk zu nennen, der sich in der Folgezeit als deutlich faschistoid entpuppte und durch sein durchgedrehtes Auftreten in der Öffentlichkeit, das mit der Übernahme des Kurznachrichtendienstes begann und ihm ein Megaphon der Superlative verpasste, mit zur Errichtung des antidemokratischen Trump-Regimes beigetragen hat. Es fällt einem aber auch die annullierte Präsidentschaftswahl in Rumänien 2024 ein, als ein in der "offiziellen Öffentlichkeit" weitgehend unbekannter Kandidat namens Călin Georgescu offenbar mit tatkräftiger russischer Unterstützung über TikTok erhebliche Teile der rumänischen Bevölkerung mit einseitigen, populistischen Kurzvideos für sich vereinnahmte.
In einem spontanen Selbstversuch, den ich im gleichen Jahr unternahm, lernte ich den Sog der TikTok-Welt selbst kennen. Ich registrierte mich dort neu mit einem ebenfalls neuen, nur für diesen Zweck angelegten Google-Konto. Der Algorithmus kannte mich also noch nicht, und auch Google konnte ihm nichts verraten. Zu den ersten Videos, die mir nach dem Aufschlagen dort angeboten wurden, gehörten:
"Ich bin trotz aller Warnungen nach Russland ausgewandert und das ist echt toll da jetzt, nicht mehr wie früher, als die Mafia regierte".
"Die 10 Städte in Rheinland-Pfalz mit den meisten Türken".
"AFD zerlegt klimareligiösen Linksradikalen der behauptet Deutschland ist an allem schuld".
"Ein Blick auf die Türklingeltafel eines großen Wohnhauses in Frankfurt, mit lauter Namen, so der Sprecher, die klingen wie Cevapcici".
"Annalena Baerbock hat letztes Jahr 135.000 Euro für Makeup ausgegeben - auf Steuerzahlerkosten".
"Junge Deutschtürken, die zugeben, schon mal kriminell gewesen zu sein".
In der Praxis treffen diese Inhalte jedoch eher selten auf Boomer mit Altmedienhintergrund, sondern vorwiegend auf jüngere Menschen, die kein Fernsehen und keine Tageszeitungen mehr kennen, und die oft auch nicht mehr mit den dort gewachsenen journalistischen Standards vertraut sind. Ihre "Weltsicht" speist sich abgesehen vom Lebensalltag in vielen Fällen nur noch aus dem Input von Plattformen wie YouTube, Instagram oder eben Tiktok. Influencer, schnelle Trends und virale Inhalte - alles dosiert von Algorithmen, die vor allem wissen, wie man Menschen triggert.
Die Situation verstärkt sich aktuell sogar nochmals, da dank der KI-Entwicklungen der letzten und nächsten Jahre immer weniger "echte" Content-Produzierende nötig sind. Man lässt einfach die Large Language Models "träumen", und KI-basierte Bild- oder Video-Generatoren generieren täuschend echte Deepfakes oder provozierende Sharepics. Wie viel davon wahr ist, interessiert ohnehin kaum jemanden mehr.
Es wäre allerdings verkehrt, das Problem der Plattformen nur auf Menschen abzuwälzen, denen die Kraft oder der Background fehlt, um sich dem algorithmischen Sog zu entziehen. Der Fall Twitter / X zeigt leider, dass gerade auch viele Prominente und sonst durchaus "geistesstarke" Persönlichkeiten an Klickzahlen und algorithmisch eskalierenden Viraleffekten zu hängen scheinen wie kleine Kinder. Und wenn sie dann endlich vor Elons verseuchter Plattform fliehen, taumeln sie mehr oder weniger schnell in die Fänge der nächsten Plattform. Dazwischen nehmen sie nur dubioses Niemandsland wahr, in dem irgendwelche Freaks siedeln, die etwas von "Augenhöhe" faseln. Dagegen wirkt eine neue Plattform, auf der schnell die alten Influencer-Verhältnisse wiederhergestellt sind, wie eine hippe, junge Großstadt. Das Problem ist nur, dass jede Plattform früher oder später monetarisiert werden muss und dann meist in die Hände irgendwelcher Kapital-Glücksritter fällt.
Um es mit einem Vergleich zu den 90ern auszudrücken: es ist, als wenn es das Web mit HTML und CSS längst gäbe, aber die meisten wollen lieber alles in Flash haben, weil es da so viel mehr blinkt und funkelt - alle Warnungen in den Wind schlagend, dass das eine proprietäre Blackbox sei, die den geistigen Fortschritt, den HTML und CSS darstellen, geradewegs wieder vernichte.
Die gute Nachricht aus der Geschichte ist: HTML und CSS im Verbund mit client- und serverseitigem Scripting haben sich letztlich gegen Flash durchgesetzt. Das lässt hoffen, dass ActivityPub und ActivityStreams es ihnen im Bereich SocialMedia irgendwann gleichtun werden. Beide Spezifikationen werden sogar ebenfalls vom W3-Konsortium gepflegt, das auch HTML und CSS als offene Standards etabliert hat.
Beide Spezifikationen beschreiben im Verbund ein Protokoll, ein Datenset und API-Endpoints, wie User eines Internet-Hosts Inhalte für andere User vom gleichen oder anderen Hosts bereitstellen können, wie andere User darauf zugreifen können, und wie all diese User von ihren Hosts aus untereinander agieren können, also z.B. um einander zu folgen, Inhalte zu liken, zu kommentieren oder weiter zu verteilen. Eigentlich sind es nur moderne Varianten älterer Standards. Einer der besten Kenner der Materie, Matthias Pfefferle, erklärt die Zusammenhänge.
Und genauso, wie HTML und CSS im Verbund mit dem HTTP-Protokoll eine "Sphäre" namens World Wide Web begründeten, bilden AcitivityPub und ActivityStreams eine soziale Sphäre, das Fediverse. Es ist genau das, was Elons Plattform-Flüchtlinge auf ihrer Reise als das dubiose Niemandsland mit den Freaks wahrnehmen. Ja - derzeit blinkt und funkelt es dort noch nicht so flashy, obwohl Zugangs-Software wie Mastodon oder Pixelfed immer mehr Verbreitung finden. Und tatsächlich gibt es im Fediverse auch dieses etwas säuerliche Urbewohner-Moralin, über das gerne mal die Nase gerümpft wird, weil es versucht, ein paar Regeln aufzustellen, zum Beispiel die Regel, alle in Postings verwendeten Bilder aus Gründen der Inklusion mit ALT-Texten zu versehen. Das zeigt aber nur, dass es sich eben um eine "soziale" Sphäre handelt, die nicht nur aus dem technischen Part besteht. SocialMedia braucht neben smoother Technik immer auch normative Regulierung - von außen, aber besser noch von innen.
In der kleinen, aber menschelnden Welt des SELFHTML-Forums hatten wir in den Anfangsjahren, also den späten 90ern, zur technischen Bewältigung des Datenaufkommens ein sogenanntes "Schwanzabschneider"-Script, und zur Regulierung epische selbstbezügliche Diskussionen mit Forumsschließungen als Ultimo Ratio. Seit dieser Frühzeit ist viel passiert. Die tausendfache Menge an Menschen ist mittlerweile im Internet unterwegs, und die meisten von ihnen kommunizieren dort auch.
Was also braucht es, um sie von den Plattformen weg ins Fediverse zu locken? Neben deutlicherer Aufklärung über die Algorithmen der SocialMedia-Plattformen (mehr Vergleiche zu Drogen und Gehirnwäsche bitte!) und einer ernsthaften (auch politisch geführten) Debatte über notwendige Grenzen des Influencings im Zeitalter der Desinformation benötigt das Gespann der Activity-Spezifikationen innovative Software und technische Lösungen, die noch mehr aus der Sache herausholen als es die bisherigen Anwendungen tun. Um beim Vergleich zu den 90ern zu bleiben: da fühlt sich das Fediverse derzeit noch an, wie mit Mosaic oder Viola im Web unterwegs zu sein, während sich die Plattformen gerade in der dritten Runde des Browserkriegs zwischen Netscape und Internet Explorer befinden. Ein "Fediverse 2.0", das jenseits der Dotcom-Blase aufsetzt, wäre deshalb der Wunsch. Mit so vergleichbar coolen Sachen, wie es damals im Web 2.0 die neu aufkommenden Blogs, Feeds, Wikis und Social-Bookmarking-Dienste waren. Mit mehr intelligenter Server- und Software-Power zwischen den Fediverse-Instanzen. Mehr Gefundenes beim Suchen, keine unvollständig auf die eigene Instanz geladenen Diskussionen mehr, und mehr Echtzeit-Feeling. Für all das braucht es aber auch flammende Developer-Herzen, und die wiederum brauchen vielleicht erst mal eine Quelle der Inspiration, so wie damals SELFHTML für viele eine war. Eine Art SELFACTIVITY-Projekt. Vielleicht kann ja sogar SELFHTML selbst noch einmal zu einer solchen Quelle der Inspiration für Visionäre und Startups werden. Mit dem Artikel über ActivityPub ist ja bereits ein Anfang gemacht!
In diesem Sinne wünsche ich dem Projekt und dem Verein dahinter, dass es weiterhin das Web erklärt und das, was dort wichtig ist, weiter so erzählt, dass es sich jetzt liest wie der Weg in die Zukunft, und später wie erlebte Geschichte. Dabei muss sich das vermittelte Wissen nicht krampfhaft nur auf die ursprünglichen Kernsprachen des Web, wie HTML und CSS und vielleicht noch etwas JavaScript beschränken. Das offene Konzept des SELFHTML-Wikis erlaubt es durchaus, von Server-Virtualisierung bis zum Design von API-Routen so ziemlich alle nur denkbaren Aspekte zu behandeln, die rund um moderne Websites oder Web-Backends eine Rolle spielen. Und wenn sich die Frontends nun mal weiter weg vom Browser hin zu mobilen Apps verlagern, spricht auch nichts dagegen, deren typische Technologien oder Sprachen zu beschreiben - sofern es sich um offene Standards handelt. Die Grenze für potentielle neue Inhalte sollte keine technologische sein. Die Grenze sollten proprietäre, nicht-offene Technologien sein, hinter denen sich in der Regel kapitalgierige Gatekeeper verbergen, denen es nie um die Sache selbst geht. Ruhe in Frieden, Flash! Und ruhet hoffentlich ebenfalls irgendwann alle in Frieden, ihr hirnwäschenden Plattformen und proprietären Protokolle!
Stefan Münz